"Meine" Städte/Länder

Thomas M. Fiedler

 

 

ITALIEN

 Lignano Pineta

(Vorabdruck aus meinem Roman "Wer war Thomas Micha?".)

 

Als sein Vater das Auto in die Auffahrt zum Ferienhaus lenkte und die Schottersteine unter den Reifen ein, durch die, wegen der sommerlichen Hitze des Südens, weit geöffneten Fenster besonders hörbares, charakteristisches Geräusch, wie es für Thomas Micha jedes Jahr nur an diesem Ort wahrnehmbar war, also dieses Geräusch machten, war der Schlaf der langen, langen Autofahrt mit einem Mal weggewischt.

Zwei Tage waren sie unterwegs gewesen, auf Bundesstraßen, Autobahnen gab es nur teilweise, über Berge, und mit einer Übernachtung an der Grenze zum Ausland, dem Ziel der Reise, Übernachtung beim Schumy-Wirten, mit Holzboden im Gastzimmer und knarrender Treppe zum ersten Stock, zu den Gästezimmern, wo er gleich nach der Ankunft, erschöpft von der Anreise, in einen tiefen Schlaf viel, beim Schumy-Wirten, von dem man hinter vorgehaltener Hand erzählte, dass er früher ein Treffpunkt der Schmuggler war, zwielichtiger Gestalten, ausgedacht, aber für Micha nach Abenteuer klingend, wohl auch für ihn so erfunden. Am nächsten Tag, nach der Reise durch ein langes Tal, von dem ihm gesagt wurde, dass es immer wieder von Erdbeben und Hochwasser heimgesucht wurde, schlaftrunken hinter seinem Vater im Wagen sitzend, das war sein Platz, waren sie angekommen, war der Schlaf der langen, langen Autofahrt mit einem Mal weggewischt.

Er wusste, nun begann endlich das ersehnte Abenteuer des Sommerurlaubs, und dieses Gefühl, ein eigentümliches Kribbeln, setzte sich bis in sein Becken fort. Ein eigentümliches Kribbeln, unbeschreiblich.

Es waren die 1960er-Jahre, Autos rochen noch nach Benzin, und die Innentemperatur im Fahrgastraum war im Sommer meist unerträglich, trotz geöffneter Ausstellfenster, welche für Luftzirkulation hätten sorgen sollen.

Seine Familie fuhr schon vor seiner Zeit an diesen kleinen Ort an der norditalienischen Küste, und man sagte ihm später, dass er genau dort „entstanden“ sei. Doch an diese ersten Jahre hatte Thomas Micha keine Erinnerung, konnte sich aber in tonlosen Super8-Filmen, welche sein Vater mit dem Beginn seiner ersten Schritte gemacht hatte, in Kodak-Farben genau dort  am Strand spielen sehen, mit weißem Sonnenhut und Perlon-Hemd, die Sonne war erbarmungslos, und er mit heller Haut, entsprechende Sonnenschutz-Creme war noch nicht verfügbar.

Schon die Vorbereitung der Abfahrt, er musste neun oder zehn Jahre alt gewesen sein, hatte für ihn etwas Rituelles. Er machte sein Kinderzimmer unüblicher Weise besonders sauber, räumte auch alle Spielsachen in die dafür vorgesehenen Regale, sodass er, wenn er nach der für ihn scheinbar ewig lange dauernden Sommerfrische wieder zurück kam - sie waren immer ein Monat weg - mit diesem eigentümlichen Kribbeln der Lust, das Gefühl hatte, in ein ganz neues, noch zu erforschendes Zimmer zu kommen, alles schien ihm deutlich heller, ja strahlender zu sein, als bei seiner Abreise.

Und nun waren sie wieder angekommen, die Schottersteine der Auffahrt hießen Thomas Micha mit diesem charakteristischen Aneinanderreiben willkommen, das Haus und der Garten schienen neu, für ein Kind wirkt alles, was es länger nicht gesehen hat, wie neu, und doch sehr vertraut. Und dann, und das war für ihn die größte Lust, ganzkörperlich spürbar, ihn fast wie eine Welle durchlaufend, war da auch der Duft der Pinien, unverwechselbar, würzig, gepaart mit der salzigen Meeresluft, durchzogen von diesem typischen Duft von italienischen Ferienorten, einer Mischung aus buntem Früchteeis und den auf der Straße ausgestellten Lederschuhen, Wasserbällen und Schwimmreifen aus Plastik, diesem speziellen Plastik, und dem Duft von feucht gewordenen, sonnengeheizten Ziegeln. Er war glücklich, überglücklich.

 

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